7:43, Montag, 6. April 1992.
Ich soll einpacken: Taschentücher, Taschenmesser, Notizblock mit Adressen und Nummern von allen Bekannten und Verwandten. Wir fahren zu Oma, das Hochhaus hat einen großen Keller.
Die erste Granate dröhnt im großen Keller eng und poliert.
Eng und poliert. Nicht wie im Film, nicht ernsthaft explodierend, nicht bebend, nicht rieselnd. Etwas Schweres, das nicht genügend Raum hat, um auseinanderzubrechen – eng. Und frei vom Rauschen, klar, sauber, metallisch glatt – poliert wird das Enge in die Kellerwände gespritzt.
Und in die Stille nach der fünfzigsten Granate macht Emilija ein Bäuerchen, danach zähle ich sie nicht mehr.
10:09, Samstag, 11. April 1992. Am fünften Tag der Belagerung schlagen Granaten in den Bergen ein, gleiten nur gelegentlich in die Stadt ab. Im Hof vor dem Hochhaus drängen sich Kühe und Schafe, Hufe auf dem Beton zwischen Fiats und Yugos.
In der Nacht sind Flüchtlinge in den Keller und das Treppenhaus eingezogen. Alte und Mütter, Babys, wie heiße Brote in Tuch gewickelt. Sie suchen in unserem Hochhaus Schutz, weil in ihren Dörfern keine Häuser mehr für Schutz übrig sind. Wie sieht ein Keller ohne Haus aus?
"Unsere Pferde hat man uns genommen. Unsere Söhne hätte man uns auch genommen, wenn die nicht vorher in die Waffen gegangen wären", seufzen die Bauern wegen ihrer Pferde, senken wegen ihrer Söhne den Blick, klagen um ihre Mädchen.
"Die machen in unseren Dörfern nicht halt", sagt ein Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart. Ich frage nach seinem Namen, schreibe „Ibrahim“ auf einen Becher und schenke ihm Wasser ein. Die zahnlosen Frauen kauen das Brot mit offenem Mund, wollen schlafen, können nicht schlafen.
Ich nenne sie nicht Flüchtlinge, ich sage: Schutzlinge. Sie haben ein Mädchen mit so hellem Haar beschützt, dass ich meinen Vater fragen muss, ob es für so ein Hell einen Farbnamen gibt.

Er sagt: "Schön."

Ich sage: "Schön ist keine Farbbezeichnung."
Schön und ihr Onkel Ibrahim essen mit uns im Keller. Ibrahim wartet, bis Schön auf seinem Schoß eingeschlafen ist und flüstert ihre Flucht:
"Aus unserem Dorf sind wir die letzten", sagt er, überlegt und korrigiert sich: "Wir sind die letzten aus unserem Nichts."
Sie haben alles zerstört, alles. Ich erzähle das, damit ihr wisst, mit wem wir es zu tun haben. Rasieren will ich mich, der Bart ist mir voll Erinnerung an die schlimmste Nacht."
Ibrahim streichelt Schön über das Haar. Die Kleine habe alles verloren, sagt er, alles und jeden.
Mehr muss er nicht sagen. Ich lasse Schön nicht aus den Augen, lasse nicht zu, dass ihr jemals wieder etwas zustößt.
Schön spricht nicht. Schön kann so ruhig sitzen, dass sie unsichtbar wird. Schön klammert sich an eine schmutzige Tasche. Am Gurt baumelt ein schmutziger Teddy.
"Ich heiße Aleksandar", sage ich. "Ich male unfertige Bilder. Schau, das sind Bücher ohne Staub, das ist Jurij Gagarin ohne Neil Armstrong, hier ist ein Hund ohne Halsband. Immer fehlt etwas nicht so Schönes."
"Ich", sagt Schön, "heiße Asija. Sie haben Mama und Papa mitgenommen. Deine Bilder sind gemein."

Was braucht man wirklich? Taschentücher, Taschenmesser, fünfzig Mark und etwas Glück.
Wie schwer wiegen Erinnerungen in einem Bart?
Kaum haben die Mütter zum Abendessen gerufen, mit flüsternden Stimmen, stürmen Soldaten das Hochhaus, fragen, was gibt es, setzen sich zu uns an die Sperrholzplattentische im Keller. Sie bringen eigene Löffel mit, an ihren Handschuhen fehlen die Kuppen.
So unbedingt dringen die Soldaten ein, wie sie auch unbedingt die Namen von allen wissen wollen, wie sie in die Decke schießen müssen, wie sie Männer am Geländer anketten im Treppenhaus.
Die Erbsen köchelten auf dem Gottseidank-dass-wir-noch-Strom-haben. Durch das Luftgitter fiel immer weniger Licht. Zu hören waren vereinzelte Schüsse, dann eine Salve, dann Stille, dann Schüsse, dann wieder Geknatter. Es kam von den Straßen und nicht mehr aus den Bergen.
Die Mütter schöpfen Erbsen für Kinder und die Soldaten. Einer mit schwarzem Stirnband bricht das Brot und verteilt die Stücke – wehe mir, wenn ich das Brot mit Dreck unter den Nägeln anfassen würde.
"Eci-peci-pec...", reimzählt einer der Soldaten und zielt auf der letzten Silbe mit dem Finger auf Čika Sead. Stellt sich vor Čika Sead, nimmt Čika Seads Brille und haucht gegen die Gläser und ein anderer, mit Strumpfmaske, bindet Čika Seads Hände mit Draht hinter dem Rücken.
Im Treppenhaus – ein Schuss. Sein Echo, seine Stille, dann: Stimmen besorgter Menschen wie aus einer Muschel am Ohr deren Rauschen.
Asijas Stimme fehlt mir, ich muss sie finden, ich weiß, wo Asija ist. Ich überhole den Soldaten, der Čika Sead wegführt, eile durch das Treppenhaus.
Die Soldaten jagen in Tarnfarben hinab-hinauf, grölen: runter! Raus! Nein! Papiere! Nein! Hände! Was? Papiere! Wie heißt du? Wie heißt du? Nehmen immer drei, immer sieben Stufen auf einmal. Ziehen in die Wohnzimmer ein, die nach Apfelkompott riechen.
Wüten in den weißen Schlafzimmern. Rütteln an Schränken, an Schubladen, an Truhen. Schmieren die Türen mit ihrer Sprache voll, Kreuze und doppelköpfige Vögel, rausraus, alle raus!
Ich sehe: Čika Muharem im zweiten Stock, die Soldaten drücken seinen Kopf gegen das Geländer. Den Nacken von oben mit den Gewehrkolben.
Weiter! Čika Fadils Mütze auf dem Boden. Weiter!
Herr Musikprofessor Popović im Vierten: Er trägt Anzug und Fliege, seine Frau Lena eine Perlenkette über der schwarzen Bluse. Die Arme vor der Brust verschränkt fragt Herr Popović einen der Soldaten: "Mein Herr, was wollen Sie von uns? Hier sind nur ehrliche Menschen."
"Wollen, dass du dein Maul hältst, hältst du dein Maul, passiert nix", und Herr Musikprofessor Popović hält sein Maul.
Ich stürze durch die Tür zum Speicher, Asija zuckt zusammen und drückt sich gegen die Wand. "Du bist es, du bist es! Schnell, die Tür zu! Sie finden uns sonst!
Sag, finden sie uns?" Asija streckt die Arme nach mir aus und fragt schluchzend: "Hast du meine Mama und Papa bei den Soldaten gesehen? Die haben sie mitgenommen, weil sie einen falschen Namen haben,
vielleicht sind sie mit den dummen Soldaten jetzt zurückgekommen!"
"Oder vielleicht bringen mich", hebt Asija plötzlich ihren Kopf und ruft unter noch mehr Tränen, "vielleicht bringen mich die Soldaten zu meinen Eltern wenn ich ihnen meinen Namen sage, hörst du? Vielleicht ist es jetzt für mich gut, falsch zu heißen, hörst du?"
Ich höre es – und Schritte, die sich nähern. Ich höre schwere Stiefel und weiß, ich trage den richtigen Namen. Es ist einer mit gelbem Bart, er will, dass wir ins Treppenhaus zurückgehen, und ich schreie ihn an: "Ich heiße Aleksandar und das, das ist meine Schwester, Katarina!"
Er sieht uns an, er riecht nicht nach Schnaps wie die anderen, er stellt keine Fragen, und das ist mir alles egal: "Das ist Katarina, meine Schwester Katarina!"
Der Name meiner Oma, davon bin ich überzeugt, kann nicht falsch sein. Omas haben niemals falsche Namen.
Meine Asija ist meine Katarina, das ist alles dasselbe.
Der Soldat sieht sich auf dem Speicher um. Unter seinen Stiefeln winseln die Dielen. "Raus mit euch." Er spricht leise und wühlt mit den Fingern im Bart, der sich gelb und dicht in sein Gesicht frisst. Asija zögert.
Der Soldat geht vor ihr in die Hocke, sein Bart berührt ihre Wange. Sie dreht den Kopf weg. Der Soldat atmet in das Mädchengesicht, der Soldat flüstert: "Aufstehen."
Aufstehen, bitte, Asija, aufstehen. Asija steht langsam auf und geht hinaus. Ich folge ihr.
Was braucht man wirklich: Taschentücher, Taschenmesser, etwas Glück, etwas Glück, das Licht im Treppenhaus geht aus, jemand knipst es wieder an.
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