Falls ihr heute anstrengende Gespräche über Verschwörungserzählungen am Weihnachtstisch führt, denkt daran: Leute aus so einem Weltbild rauszuholen ist ein Marathon & kein Sprint. Wenn einer nach 1h Diskussion dabei bleibt, seid ihr nicht „gescheitert“ - das ist normal! (1/x) ❤️
Der Weg aus dem Kaninchenbau dauert manchmal ähnlich lang, wie der Weg hinein. Klar, es gibt diese Fälle, wenn z.B. ein für todsicher befundener „Beweis“ für die Existenz von Chemtrails sich als Fake herausstellt & der andere aufgrund dieser Info sofort ins Grübeln kommt…
Häufig ist es so, dass Menschen selbst eine sehr überzeugende Information erst einmal „sacken lassen“ müssen. Und zunächst recherchieren sie es eigenhändig nochmal nach. Es ist ein wenig, wie das pflanzen eines Saatkorns: Ob es keimt & wenn ja wann, lässt sich nicht erzwingen.
Mit der Haltung „ich muss das jetzt unbedingt gewinnen“ in eine Diskussion zu gehen, ist wenig zielführend. Denn so steht man automatisch unter immensem Druck, hat Angst zu scheitern & reagiert eher gereizt. Besser ist: Ich will Impulse setzen, Fragen aufzeigen, Neugierig machen.
Den anderen mit möglichst vielen Fakten zu bombardieren kann einen gegenteiligen Effekt auslösen: Der andere fühlt sich überfordert & angegriffen & macht die Schotten komplett dicht. Besser ist daher, sich seine Argumente in „Etappen“ einzuteilen.
Wir alle wollen vor anderen gerne unser Gesicht wahren. Bei Debatten am Weihnachtstisch gilt daher: Das Ziel von Gegenrede ist nicht immer, den anderen zu überzeugen. Wer gibt schließlich schon gerne vor anderen zu, falsch zu liegen. Aber wenn problematische Aussagen einfach so…
stehen gelassen werden, kann unser Schweigen als Zustimmung missverstanden werden. Bei Gegenrede in solchen Situationen geht es oft eher um die anderen Zuhörer in der Gruppe. Gegenrede kann auch zum Ziel haben zu verhindern, dass Mythen neue Anhänger finden.
Macht Euch auch klar: Wenn ihr mit jemanden wirklich inhaltlich diskutieren wollt, ist es besser das unter 4 Augen zu tun. Denn vor versammelter Mannschaft fühlt sich diskutieren schnell an, als würdet ihr in einer Arena gegen einander kämpfen. Das ist oft wenig zielführend.
Versucht zunächst, die Lage zu sondieren: Was glaubt der andere genau? Woher hat er das? Und wie lange glaubt er das schon? Versucht zu verstehen, mit was ihr es zu tun habt: Ist hier wer letzte Woche einem Fake aufgesessen oder liest die Person seit Monaten nur noch Telegram?
In der Diskussion gilt: Klar in der Sache, sachlich im Ton. Also nicht: „Boah bist du dumm, was du glaubst ist Quatsch!“ sondern: „Das überzeugt mich zwar nicht, aber ich bin neugierig, warum du das glaubst.“ UND: Klare Gegenrede bei Antisemitismus & Rassismus.
Statt sich in Details von Verschwörungserzählungen zu verlieren kann es helfen, das dualistische Weltbild zu hinterfragen. Wenn einer über „die Medien“ schimpft, fragt nach was damit gemeint ist. Bild, taz, Bunte, Brigitte, WDR, RTL2, Lokalzeitung…? Fordert Differenzierung ein.
Verschwörungserzählungen beinhalten immer eine klare Einteilung der Welt in „Gut“ & „Böse“. Es ist auch eine Art Heldengeschichte, die man sich selbst & anderen erzählen kann. Den anderen immer wieder daran zu erinnern, dass die Realität deutlich komplexer ist, ist daher wichtig.
Oft wird geraten, Fragen zu stellen. Fragen signalisieren dem anderen Interesse - um gute Fragen stellen zu können, muss man gut zuhören. Fragen sind auch aus didaktischer Sicht sexy: Wir merken uns Dinge eher, wenn wir sie erklären müssen, als wenn wir sie vorgekaut bekommen.
Eine Möglichkeit ist daher, sich zurückzulehnen & den Finger in die Wunde zu legen: Wer sind „die da oben“? Wie genau funktioniert die Verschwörung? Wie plausibel ist es, dass Millionen Menschen Mitwisser sind, aber niemand etwas ausplaudert? Was haben „die“ denn davon?
Hier gilt allerdings: Wenn ihr das in großer Runde macht, bereitet ihr dem anderen eine Bühne um seine Geschichten ausführlich zu präsentieren. Die Fragestrategie würde ich daher eher im 4 Augen Gespräch anwenden. Da ist auch mehr Raum um zuzugeben, dass eine Story Lücken hat.
Es gibt auch Fragen, die auf die Metaebene zielen. Etwa: „Was würde dich vom Gegenteil überzeugen?“ Wenn der andere daraufhin schweigt & überlegt, macht ihm das vielleicht klar, dass er gar nicht so sachlich ist wie er von sich selbst denkt. Und sich längst in etwas verrannt hat.
Eine andere gute Frage ist: „Glaubst Du, die Beschäftigung damit tut dir gerade gut?“ Obwohl Verschwörungserzählungen kurzfristig stabilisierend wirken können, ist ein solcher Glaube doch langfristig oft belastend. Das von außen zu spiegel kann einen Nachdenkprozess anregen.
Generell solltet ihr Euch bewusst machen, dass Fakten-Debatte bei derartigen Interventionen nicht immer die größte Rolle spielen. Die emotionale Ebene ist mindestens genauso wichtig. Gerade bei verhärteten Fronten ist das Emotionale oft der letzte Anker.
Sabine Riede, Leiterin der Sekten Info NRW hat mir mal gesagt: "In der Sektenberatung haben wir einen Grundsatz, der lautet: Wichtig ist, dass jemand die Sekte nicht mehr nötig hat. Das gilt auch für Verschwörungsideologien. Es geht hierbei nicht um eine Gehirnwäsche, sondern...
..darum, dass derjenige irgendwo auch für das, was ihm dort geboten wird, empfänglich ist und mitspielt. Und diesen Nährboden gilt es abzugraben." Verschwörungserzählunngen docken sehr geschickt an psychologische Bedürfnisse an. Fragt Euch: Warum will der andere das glauben?
Macht dem anderen der Kontrollverlust in der Pandemie besonders viel Angst & gibt der Verschwörungsglaube die Illusion von Kontrolle? Nach dem Motto: "Der Plan ist nicht schön, aber wenigstens kenne ich ihn und kann klare Schuldige benennen?" Oder genießt der andere das Gefühl,..
"mehr zu wissen", als alle anderen um ihn herum? Gibt ihm die Geschichte ein positives Selbstbild, nach dem Motto "Ich denke selbst, alle anderen sind ferngesteuert"? Ist diese Selbstaufwertung besonders wichtig für den anderen? Oder ist es der Anschluss an eine Gruppe?
Beratungsstellen raten dazu, sich Gedanken darüber zu machen, wie man die jeweils durch dieses Narrativ angesprochenen Bedürfnisse auf eine gesunde Art befriedigen kann (ohne Verschwörungsglauben). So etwas funktioniert aber nur im privaten Umfeld, es ist oft sehr zeitaufwendig.
Aussteiger berichten oft, dass persönliche Krisen beim Einstieg in die Szene eine Rolle gespielt haben. Man flüchtet sich sozusagen in eine Phantasiewelt. Die realen Probleme wirken plötzlich nicht mehr so wichtig, wenn man glaubt nächste Woche ist Bürgerkrieg. Das ist nicht...
... immer so, es macht trotzdem Sinn, genau hinzuschauen ob nicht vielleicht ganz andere Probleme hier mit reinspielen. Über diese zu reden kann dann manchmal zielführender sein, als die Verschwörungserzählung in Details zu diskutieren.
Gerade wenn man das Gefühl hat, der andere beschäftigt sich sehr obsessiv mit diesem Thema - checkt etwa alle paar Minuten Telegram - kann man auch versuchen hier gezielt zumindest eine kurze Atempause reinzubringen. Spaziergang im Funkloch mit ganz anderen Themen? Super!
Beratungsstellen raten auch manchmal dazu, gezielt mit positiven Erlebnissen & Gefühlen gegen zu steuern. Etwa, indem man mit den Eltern alte Familienfotos anschaut & sich gemeinsam an Schönes erinnert. Nach dem Motto: "Schau, es gibt wichtigeres im Leben, als dieses Thema."
Gerade wenn jemand schon sehr gefestigt in seiner Überzeugung ist, sollte man sich klar machen, dass die jeweilige Überzeugung unter Umständen auf psychischer Ebene stabilisierend wirkt. Es gibt dem anderen das Gefühl, besonders zu sein, Teil einer Gruppe, etc...
Deshalb reagieren einige Anhänger auch sehr aggressiv auf Gegenrede. Für sie fühlt sich Widerspruch an, als würde ihnen jemand etwas wegnehmen wollen, das für sie kostbar ist. Das heroische Selbstbild wird plötzlich angegriffen. Der Glaube, zu den Guten zu gehören.
Allein den Gedanken zuzulassen, sich in etwas verrant zu haben, kratzt unglaublich am Selbstbild. Der andere merkt, dass er sich und andere gefährdet hat. Dass er falschen Propheten blind vertraut hat und da überhaupt nicht "kritisch" war. Und Hass & Hetze unterstützt hat.
Anhänger von Verschwörungserzählungen sind nicht immer nur "verführte Opfer" - sie können auch zu Tätern werden. Deshalb ist Abgrenzung auf politischer Ebene extrem wichtig, auch wenn wir hoffen, bei Angehörigen & Freunden auf privater Ebene noch durchdringen zu können.
Strategien auf emotionaler Ebene eignen sich ausschließlich für das eigene private Umfeld. Und auch da muss es Grenzen geben. Das ist kein Rezept für eine politische Auseinandersetzung. Hier gilt: Wer Werte & Normen verteidigen will, sollte nicht mit Akteuren "auf Augenhöhe"...
... diskutieren, die andere mit dem Tod bedrohen und systematisch Hass & Hetze verbreiten. An der Stelle muss klar sein: Wer das tut, disqualifiziert sich als Gesprächspartner. Würde mir sehr wünschen, dass in Politik und Medien Verschwörungsideologen kein Podium geboten wird.
Und auch im privaten ist es wichtig, dass ihr rote Linien zieht. Antisemitismus und Rassismus sollte klar als solcher benannt werden. Da solltet ihr nicht einfach drüber hinweg gehen. Und "Der Ton macht die Musik", gilt auch für den anderen. Ihr müsst Euch von niemandem...
... anschreien oder als "Schlafschaf" oder "Systemling" beschimpfen lassen. Auf die Art zu diskutieren bringt einfach nix, gerade weil es ein Marathon und kein Sprint ist. Das hält keiner durch & da hört auch keiner mehr zu. Macht klar: Wenn der andere diskutieren will, dann..
... muss er sich an gewisse Basics halten (die du ebenfalls respektierst). Im Zweifel bringt es mehr, eine Pause einzulegen oder das Gespräch zu vertagen, als in vergifteter Atmosphäre weiter zu reden. Hört in Euch rein: Hast Du überhaupt gerade die Kapazitäten & Kraft für...
... langwierige Debatten? Wenn nicht, ist das auch total verständlich. Leute aus so was rausholen zu wollen ist ein krasses Projekt, & oft klappt es auch nicht. Man kann es nicht erzwingen. Es ist besser, sich seine Kapazitäten realistisch einzuteilen, als sich zu überlasten.
Es ist auch nachvollziehbar, wenn irgendwann ein Punkt erreicht ist, an dem man einfach nicht mehr kann. Das ist normal. Ob man den Kontakt abbricht, oder aber eine Kontaktpause einlegt, ist eine extrem schwierige Entscheidung. Aber wie sagt man sowas? Die Leiterin der...
Sekteninfo NRW rät jedenfalls ganz klar davon ab, eine Art Ultimatum zu stellen, im Stil von: "Entweder du glaubst das nicht mehr, oder ich bin weg." Meist erreicht man damit eher das Gegenteil, nämlich eine Trotzhaltung. Bei einer Kontaktpause sollte man klar benennen, was das..
... Problem ist. Und eher gewaltfrei kommunizieren. Eine Psychotherapeutin gab mir etwa folgenden Formulierungsvorschlag: »Du bist ein wichtiger Mensch in meinem Leben, und das wirst du auch immer sein. Ich habe aber das Gefühl, dass deine Position mehr und mehr verhindert,...
... einander wirklich zwischenmenschlich zu begegnen. Bei mir ist eine Grenze erreicht, und ich brauche eine Pause von den Inhalten, die du in letzter Zeit vertrittst. Ich hoffe ehrlich, dass es uns bald wieder möglich sein wird, unsere Freundschaft so zu leben, wie wir es...
... beide kennen.« Es ist auch vollkommen nachvollziehbar, rote Linien in Bezug auf Bekehrungsversuche zu ziehen. Etwa: "Ich möchte nicht mehr so viele Links von dir zugeschickt bekommen." Oder: "Erzähle solche Sachen bitte nicht mehr vor meinen Kindern, das verängstigt sie."
Natürlich solltet ihr auch klar machen, dass Eure Bedürfnisse in Bezug auf Infektionsschutz nicht einfach übergangen werden dürfen. Und wenn das nicht respektiert wird, ist es absolut legitim zu dem Schluss zu kommen: Ein Treffen fühlt sich für mich gerade einfach nicht gut an.
Wie gesagt: Es gibt kein Wundermittel. Ihr könnt einem anderen Menschen zwar die Hand reichen und versuchen ihn aus dem Kaninchenbau seiner Überzeugungen zu ziehen. Ob dieser jemand aber Eure Hand überhaupt ergreifen will, das könnt ihr nur begrenzt beeinflussen. Manchmal..
...ist vielleicht einfach nicht der richtige Zeitpunkt für eine Intervention, weil der andere nicht wirklich offen ist. Wenn schon erste Zweifel da sind, etwa weil Vorhersagen nicht eingetreten sind, dringt man plötzlich mit Argumenten durch, die zuvor verpufft sind. Was hilft..
...ist vor allem, das alles nicht in sich reinzufressen. Oder sich die Schuld zu geben. Vielen Menschen geht es gerade ähnlich. Ihr seid damit nicht allein. Darüber zu reden kann helfen. Etwa mit Angehörigen oder Freunden oder aber ihr wendet Euch an eine Beratungsstelle.
Wünsche Euch ganz viel Kraft & Erholung über die Feiertage! Wer mehr Tipps braucht, kann ins Buch "True Facts – Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft" von @pia_lamberty & mir reinschauen. Hab hier hemmungslos gespoilert & werde jetzt mal weiter Geschenke enpacken.🎄🤶
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