Die Fassungslosigkeit und das Unverständnis über die mangelhafte Pandemiebekämpfung schlägt bei vielen Menschen (und da schließe ich mich ein) in blanke Wut und Verzweiflung um. Ich glaube, der Schaden ist schwer reparabel.

Habe versucht, das in Worte zu fassen - Thread.
Bundesregierung und Ministerpräsident*innen haben den Dritte Welle Zug mit 280 km/h auf eine Wand zugefahren. Wissenschaftler*innen, Zivilgesellschaft, verantwortungsvoller Journalismus, sie alle haben zum Bremsen aufgefordert - vergeblich.
Je länger der Zug mit voller Geschwindigkeit auf die Wand zufuhr, desto heftiger hätte die Vollbremsung ausfallen müssen. Stattdessen feuerten u.a. Ministerpräsident Tobias Hans und FDP-Chef Christian Lindner den Kessel weiter an - und wir haben bis heute nicht gebremst.
Ich glaube, der Kern der Sache ist dieser:

Während darüber diskutiert wird, ob man ab 21 Uhr alleine draußen joggen darf, wird die berufliche Welt und der Weg dorthin VOLLENDS ausgeklammert. Sie findet in der Kommunikation der Regierung schlicht nicht statt.
Dieser direkte Vergleich zwischen komplett pulverisiertem Privatleben auf der einen und Wortungetümen wie TestANGEBOTSpflicht, um der Wirtschaft wirklich endgültige Absolution zu erteilen, auf der anderen Seite, ist nicht vermittelbar.
Die zentrale Frage habe ich weiterhin nirgendwo beantwortet gesehen:

Warum ist ein kurzer, drastischer Lockdown (inklusive Büros, Schulen und alles außer Schlüsselindustrien) schlechter für die Wirtschaft als dieser seit Oktober andauernde Dämmerzustand?
Sport, Kultur, Kunst, Gastronomie u.v.a. Bereiche sind quasi tot. Sie wurden und werden geopfert, damit z.B. bei VW weiter Autos vom Band laufen können.

Aber irgendwann werden wir vor der Frage stehen, wer diese Autos eigentlich noch kaufen soll.
Portugal hat es gezeigt, selbst Boris Johnson hat es gesagt: Ein harter Lockdown ermöglicht schnellere, weitgehendere Öffnungen und das Wiedererlangen unserer Freiheit - ich weiß bis heute nicht, warum das nicht passiert, zumal die gesellschaftliche Unterstützung immer da war.
Wie kurzsichtig und TÖRICHT erscheint dieses zum Scheitern verurteilte Aufbäumen gegen die Naturwissenschaften, dessen Ergebnis seriöse Wissenschaftler*innen wirklich 1:1 vorausgesagt haben?

In aller Deutlichkeit: Wir alle wussten GENAU, was passieren würde. HAAR GE NAU.
Ein Teil der Antwort liegt glaube ich tatsächlich im Lobbyismus von mächtigen Wirtschaftsverbänden begründet, die offensichtlich weder die Weitsicht noch ein gesteigertes Interesse für eine langfristig nachhaltige Lösung haben. S. dazu Armin Laschets Aussage vergangenes Jahr: https://twitter.com/ntvde/status/1252154616885714944
Ein weiterer Teil liegt glaube ich an einer politischen Kultur, die im Zugeben von Fehlern eine Schwäche sieht. (Dazu an anderer Stelle bald etwas ausführlicher).
Armin Laschet etwa musste seine vollkommen offensichtliche Kehrtwende mit mehrtägigem Nachdenken, einem Gespräch mit einem Mediziner und dem PR-Wort BRÜCKENLOCKDOWN kaschieren. Er konnte nicht einfach zugeben, dass er falsch lag. In dieser Pandemie kostet das Zeit - und Leben.
Die Diskrepanz zwischen “Ja wir brauchen schärfere Maßnahmen” und dem, was dann wirklich auf dem Tisch liegt, ist argumentativ nicht mehr zusammenzuführen.

Wirtschaftsminister Altmaier redet sich bei Tilo Jung um Kopf und Kragen und es wird klar: Er sagt nicht die Wahrheit. https://twitter.com/CorneliusRoemer/status/1383420926692184065
Entweder lügt er vorsätzlich oder lebt wirklich vollends in seiner eigenen Welt. Beides ist nicht gut für ein Kabinettsmitglied. Sein Auftritt zeigt außerdem ein weiteres Problem: Das Gleichsetzen von qualifizierten mit unqualifizierten Meinungen (und das Versteckspiel dahinter):
Wir laufen (medial) immer und immer wieder hinter Scharlatanen her, die uns in der Sache nicht weiterbringen, aber Kontroverse und Reaktionen garantieren. Daraus machen einige politische Entscheider*innen (nicht nur Altmaier) dann „Der eine sagt das, der andere das“.
Ob das wirklich aus Unwissenheit geschieht oder ein schlechter Versuch ist, diese gescheiterte Politik zu begründen, darüber kann ich nur spekulieren. Aber: Es gelingt ihnen, anders als früher (z.B. in der Klimakrise) nicht mehr, irgendetwas davon glaubhaft zu machen.
Der vorläufige Gipfel kam dieser Tage: Der Aufruf ebendieser Regierung, gemeinsam zu trauern, eine Kerze aufzustellen.

Warum „Gipfel“ zeigt exemplarisch Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans: https://twitter.com/sixtus/status/1383766744167190535
Bitte nicht falsch verstehen, ich halte eine kollektive Trauerbewältigung für nötig und glaube, die psychischen Folgen von Corona für die Gesellschaft werden und noch viele Jahre begleiten, aber:
Nachdem jegliche Warnung in den Wind geschlagen wurde,

Modellprojekte für den Einkaufsbummel wichtiger waren als Luftfilter in Schulen,

nachdem der ohnehin politisch mittlerweile verdreifachte Inzidenzwert durch die Zahl freier Intensivbetten ersetzt wurde,
nachdem man Eltern über Monate dazu gezwungen hat, sich potentiell zwischen der physischen Gesundheit ihrer Kinder und der psychischen entscheiden zu müssen und sie KOMPLETT alleine gelassen wurden mit dieser URANGST um das Wohlergehen ihrer eigenen Kinder,
nachdem viele Menschen Familienmitglieder auf erbärmlichste Art und Weise röchelnd auf dem Bauch liegend durch eine Scheibe gesehen haben, ihnen dabei nicht einmal die Hand halten und bei ihnen sein konnten,
nachdem viele Menschen Angehörige beerdigt haben, dabei mit Maske vollkommen isoliert auf dem Friedhof standen und anderen Hinterbliebenen nicht einmal durch eine Umarmung Trost spenden konnten,
nach ALL DEM schlagen diejenigen, die kürzlich noch gegen jede Vernunft, Wissenschaft und Erfahrungsberichte aus anderen Ländern immer weiter Kohle ins Feuer schippten, jetzt vor, eine Kerze ins Fenster zu stellen, zusammenzustehen und gemeinsam zu gedenken.
Ich finde das wirklich so unglaublich zynisch, ich versuche nicht mal, es in Worte zu packen.

Und ich weiß zumindest aus den Gesprächen, die ich geführt habe:
Diese Menschen werden das nicht vergessen und nicht vergeben. Die Sorge um die liebsten Menschen gepaart mit diesem Regierungsvesagen + dieser Flucht vor Verantwortung ist unverzeihlich.
Was das für uns als Gesellschaft und für diejenigen, die die Verantwortung für dieses Desaster tragen, werden wir in den nächsten Monaten herausfinden.

Danke für die Aufmerksamkeit, freue mich über Feedback.
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