Das generische Maskulinum macht Frauen unsichtbar, sagen die einen. Nein, alle sind angesprochen, sagen die anderen.

Welche mentalen Bilder lösen generische Bezeichnungen im Kopf aus? Das ist eine empirische Frage, keine ideologische. Ein Thread über sprachliche Experimente (1)
(2) Zwei Vorbemerkungen:
1. Hier gibt's nur Experimente, keine politische oder linguistische Theorie.
2. Ob und wie viel wir gendern, ist für mich keine Frage der Weltanschauung, sondern von Kosten und Nutzen. Deshalb habe ich in die Daten geschaut. Persönliches Fazit am Ende.
(3) Jetzt zur Sache: Schließt das generische Maskulinum Frauen in unseren Köpfen aus? Antwort: nein, aber. Aber, weil die Daten sehr klar zeigen, dass generische Maskulina auch keineswegs neutral gelesen werden. Wir tendieren offenbar deutlich zu einer männerzentrierten Lesart.
(4) Experiment 1: Probanden eines Tests sollen eine generisch bezeichnete Person aus einer geschlechtlich ausgewogenen Gruppe als Mann oder Frau festlegen.

Ergebnis für "Bürger": 78% Männer, 13% Frauen.

"Wähler": 66% Männer, 22% Frauen.

"Leser": 75% Männer, 15% Frauen.

Q1
(5) Experiment 2: Probanden sollen den Frauenanteil auf einem Fachkongress auf Basis kurzer Texte schätzen. Bei generischer Bezeichnung im Plural ("die Geophysiker") liegt die Schätzung bei ca. 20%. Nennt man "Geophysikerinnen" explizit mit, steigt die Schätzung auf ca. 30%. Q2
(6) Experiment 3: In einem Fragebogen sollen Probanden ihre Lieblingsfiguren aus Geschichten nennen. Fragt man generisch nach "Helden", nennen Männer im Schnitt 0,2 weibliche Figuren, Frauen 1,1. Fragt man nach "Heldinnen oder Helden" kommen 1,4 bzw. 1,9 weibliche Vorbilder. Q3
(7) Experiment 4: Leser bewerten Texte eher als kohärent, wenn sich generisch bezeichnete Personen im Folgesatz als Männer erweisen (69%), und weniger oft, wenn die Personen stattdessen als Frauen identifiziert werden (31%). Auch die kognitive Verarbeitung dauert dann länger. Q4
(8) Insgesamt ist die Forschungslage klar. Egal, wie und was man misst: Generische Maskulina führen offenbar zu einer mentalen Überrepräsentation von Männern. Unabhängig von der grammatischen Intention, in der psychologischen Realität ist das generische Maskulinum nicht neutral.
(9) Also einfach à la Duden das generische Maskulinum über Bord werfen und das Problem ist gelöst? Nein. Einerseits kann sprachliche Repräsentation definitiv unerwünschte Verzerrungen erzeugen. Die Daten zeigen aber auch: Sprache ist hier nicht der einzige oder wichtigste Faktor.
(10) Ein Grund: Kontext. Leute legen ihr Weltbild auf generische Bezeichnungen. Fragt man in Experiment 2 neben Geophysik auch nach Ernährungswissenschaft, erhält man ganz andere Ergebnisse. Leute orientieren sich an wahrgenommenen Geschlechtsverteilungen verschiedener Berufe. Q2
(11) Dass Weltwissen mentale Bilder prägt, wird auch in dieser Studie anschaulich (siehe Bild). Probanden schätzen den Männeranteil in 126 Rollen/Berufen nach generischer Bezeichnung extrem unterschiedlich (Auch hier führte Beidnennung danach aber zu erhöhten Frauenanteilen). Q5
(12) Sogar in real gleichverteilten Gruppen ist sprachliche Repräsentation nur eine Teilerklärung. Wiederholt man Experiment 1 explizit für beide Geschlechter (Bürgerinnen/Bürger), steigt z.B. der Frauenanteil für "Bürger" von 13% auf nur 19%, für "Wähler" von 22% auf nur 31%. Q1
(13) Selbst die explizite Nennung der weiblichen Form führt nicht zu einer realistischen bzw. "gerechten" Vorstellung. Das ist natürlich kein Grund, auf explizite sprachliche Nennung zu verzichten. Dass der Mehrwert solcher Interventionen beschränkt bleibt, wird indes deutlich.
(14) Wird anstelle der Beidnennung das Binnen-I oder Gendersternchen verwendet, lesen die Leute die entstehenden Formen tendenziell eher wie einen weiblichen Plural. Das führt dann unter Umständen zu einer mentalen Überrepräsentation von Frauen (im Bild als "Capital I") Q3
(15) Ebenso zeigt sich, dass es beim Design von Fragebögen einen Unterschied macht, welche Formen zuerst genannt werden. Nennt man weibliche Formen zuerst, führt das zu einer signifikant besseren mentalen Inklusion von Frauen z.B. bei der Frage nach Frauenanteilen in Berufen. Q5
(16) Erstaunlich ist auch, dass sich die Beidnennung bei Berufen auf die Wahrnehmung des Sozialprestiges und auf Gehaltserwartungen auswirkt. Beides verschlechtert sich leicht, wenn anstelle generischer Maskulina weibliche und männliche Formen explizit genannt werden. Q6
(17) Mein persönliches Fazit: Die Daten überzeugen mich, dass bloße generische Bezeichnungen in vielen Fällen ungerechte und unerwünschte Effekte haben, die wir durch sprachliche Mittel abfedern sollten, insbesondere, wenn soziale Kernfragen wie Chancen und Zugang berührt werden.
(18) Ob das jetzt ein Riesenproblem ist, darüber lässt sich streiten. Es kostet aber nichts, die ohnehin in der deutschen Sprache vorhandenen weiblichen oder neutralen Formen zu benutzen. Wenn das hilft, unserer unvollkommenen Kognition Beine zu machen, dann ist Nutzen > Kosten.
(19) Deshalb das generische Maskulinum als Konzept abzuschaffen, finde ich aber falsch. "Zum Bäcker gehen" erzeugt kein soziales Problem, wird aber falsch ohne generische Form. Jede Äußerung muss dann immer auch eine Aussage über Geschlecht machen. Das ist Unsinn. Kosten > Nutzen
(20) Anders gesagt: In vielen Fällen ist die Uneindeutigkeit des Maskulinums ein Gerechtigkeitsproblem, in anderen ein schützenswertes Gut. Es ist richtig, "Bürgermeisterinnen" zu sagen, aber der "Bürger" macht dabei keinen Unterschied. "Bürgerinnenmeisterinnen" braucht es nicht.
(21) Quellen:
Q1 - Klein, in ISBN: 978-3484105935
Q2 - DOI:10.1515/zfgl.1998.26.3.265
Q3 - DOI:10.1515/comm.2005.30.1.1
Q4 - DOI:10.1080/01690960701702035
Q5 - DOI:10.3758/BRM.40.1.206
Q6 - DOI: 10.3389/fpsyg.2015.02018
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