Wer Nietzsche ohne Vorkenntnisse lesen will, stößt auf Texte, die für ungeübte Leser*innen einigermaßen verwirrend sind. Nietzsche wird oft sehr früh gelesen, weil man von den radikal wirkenden Thesen und der dichterischen Sprachgewaltig angezogen wird. /1
Dabei gehört Nietzsche zu den voraussetzungsvollen Philosophen, wie auch Hegel, Kant oder Spinoza. Es verwundert daher nicht, dass die Lektüre Begeisterung und Verwirrung, oft auch – quasi kompensatorisch – Abschätzigkeit im Urteil von Leser*innen auslöst. /2
Wer Nietzsche lesen will, muss sich daher ein paar Dinge bewusst machen, um die Hürden seiner Texte leichter nehmen zu können. – Erstens: Nietzsche war klassischer Philologe, in jungen Jahren sogar mit sehr großem Erfolg. Diese Form klassischer Bildung setzt er überall voraus. /3
Das bedeutet, dass man sich in griechischen und lateinischen Texten ein wenig auskennen muss, auch um die zahlreichen Anspielungen verstehen zu können. – Zweitens: Nietzsche schreibt nicht nur inhaltlich gegen bestimmte philosophische Entwicklungen an. Er sucht auch neue /4
Ausdrucksweisen. Das hat mit seiner These zu tun, dass das, was wir im Sprechen tun – für einen rhetorisch geschulten Philologen übrigens eine recht übliche Perspektive – das, was wir darin ausdrücken, mitbestimmt. Das Wie bestimmt das Was mit – es hilft also nichts, nur /5
inhaltlich anderes zu denken – man muss es auch auf andere Weise tun. Dichterische Formen wie die wieder aus der philologischen Bildung entlehnten Wanderpredigerdichtung, der Aphorismus und der durchkomponierte Essay bieten die Möglichkeit, das Wie zu ändern. /6
Nietzsche ist sich also im Klaren darüber, dass er seine philosophischen Texte tendenziell verstellt – er fordert von seinen Leser*innen ein ausgebildetes Verständnis; wer das nicht leisten will, muss eben „draußen bleiben“. Auch das hat mit seiner These zu tun: dass ein /7
bestimmtes Denken sich vor allem deswegen durchgesetzt hat, weil es von vielen vertreten wird, die sich eher an bestimmten Zwecken orientieren als daran, die mit diesem Denken verbundenen Probleme anzugehen. Die fallen ihnen aber, so Nietzsche, genau deswegen auf die Füße. /8
Drittens muss man sich klar machen, in welcher Zeit Nietzsche schreibt: der „Deutsche Idealismus“ gilt allgemein als erledigt. In Frankreich regiert der Positivismus, in England und Deutschland der Empirismus und die Psychologie das philosophische Feld. Aber Nietzsche /9
ist kein Universitätsphilosoph – sondern ein Außenseiter. Wie Marx oder Kierkegaard ist er ein philosophischer Publizist. Wie heute auch müssen diese sich Aufmerksamkeit verschaffen, denn sie haben keine Lehrstühle oder finanzierten Forschungsprogramme. Ein Teil der Polemik /10
für die Nietzsche so berüchtigt ist, kommt da her: Es sind Interventionen in Diskurse mit hoher Aufmerksamkeit. Nietzsche war ansonsten recht einsam in seinem Denken – er ringt ständig darum, verstanden zu werden, sehr oft vergeblich. Die, die ihn verstehen, enttäuschen ihn /11
auf andere Weise. Seine Gesundheit ist ziemlich angegriffen, er leidet unter heftiger Migräne und schweren Depressionen, weswegen er ein unstetes Reiseleben führt. Ein gebrochener Charakter. – Viertens liegt in Nietzsches Werk letztlich ein im Wortsinn sehr klassisches /12
an Antike und Früher Neuzeit geschultes philosophisches Denken. Texte wie der „Zarathustra“ sind auch der Versuch, den Leser*innen eine Darstellungsart zu präsentieren, die für sie verständlich ist. Als das nichts bringt, verlegt Nietzsche sich auf andere Formen. Der Gedanke /13
aber, der diese Darstellungsarten trägt, bleibt. Das ist gut, denn man kann deswegen sehr unterschiedliche Texte lesen, um den – mehr oder weniger – gleichen Gedanken zu verstehen. Nietzsche stellt Thesen auf, argumentiert für sie, etabliert ein Problem und setzt sich mit /14
verschiedenen Lösungswegen auseinander. Er entwickelt Varianten, Nuancen seiner Gedanken, lotet sie aus, experimentiert mit ihnen. Man kann ihm quasi dabei zusehen wie er die Konsequenzen seiner Prämissen entfaltet und entwickelt. – Für all das benötigt man aber ein gerüttelt /15
Maß dichterisches Textverständnis – Epos, Drama, Lyrik; überhaupt Literatur –, weil das eben als Mittel eingesetzt wird, um bestimmte philosophische Fehlstellungen zu vermeiden (Begriffsessentialismus, Sprechen vom Nirgendwo usw.), die Nietzsche als problematisch sieht. /16
Den größten Spaß hat man mit Nietzsche, wenn man ihn etwas später liest, etwas über Philosophiegeschichte, insbesondere des 19. Jhs. weiß, eine Zeitlang die Bildungsart „humanistisches Gymnasium“ genossen hat und sich in dichterischen Kontexten freier bewegen kann. /17
Erst wenn man begreift, dass Darstellung in der Philosophie keine bloße Form für einen Inhalt ist, sondern selbst Operation dieses Inhalts, dass die Änderung der Darstellungsart Probleme vermeiden kann, versteht man auch das „Literarische“ und seine philosophische Funktion. /18
You can follow @Fionnindy.
Tip: mention @twtextapp on a Twitter thread with the keyword “unroll” to get a link to it.

Latest Threads Unrolled: