Defining Moments #2:
Universal Ethics?

Ghana, in der Nähe von Accra 2013.

Ich bin als "Volunteer" hier. Nicht um zu helfen, diese Hybris habe ich bereits abgelegt. Ziel war, Medizin abseits des westl. Standards auszuüben. Keine Geräte zu behandeln, sondern Patienten.
Ich arbeite in einem "Krankenhaus" in einem Vorort von Accra. Das durchschnittliche Gesundheitsbewusstsein lässt sich gut anhand der Straßenmärkte beurteilen, auf denen Frauen mit großen Fächern Fliegenschwärme von seit Stunden in der Sonne liegenden Schweinsköpfen fortscheuchen.
Zuerst war ich einen Monat in der Notaufnahme, dann wechselte ich in den Maternity Ward.

Es gibt einen Arzt in der Klinik, den Direktor. Der ist vor allem administrativ tätig.

Der Maternity Ward wird von fertigen und angehenden Midwives betreut.
Ich habe zu diesem Zeitpunkt schon an die 100 Geburten begleitet, bei mehreren Duzend assistiert, und 2 oder 3 "einfache" quasi alleine begleitet.

Heute ist einer dieser Tage.

Ich komme zur 24h Schicht, das "Vorzimmer" ist mit 10 Patientinnen voll.
Die nächste große Klinik, Korle Bu, das Universitätskrankenhaus in Accra, ist von hier aus 27km entfernt.

Im ghanaischen Stadtverkehr also auch mal zwei Stunden oder mehr.

Das bedeutet: Jede Frau die hier ankommt, wird auch hier gebären. No matter the odds.
Und diese Odds bedeuten auch schonmal, dass eine 15 jährige unbekannte Patientin vier Stunden aus einem Dorf zur Klinik braucht.

Dass ein Bein der Leibesfrucht schon geboren ist, wenn die Frau aus dem Taxi steigt.

Dass diese Frau keine Vorsorgeuntersuchung hat.
Dass niemand weiß wie das Kind liegt, oder die Plazenta.

Ob die Mutter Vorerkrankungen hat oder Schwangerschaftserkrankungen.

Es wird entbunden.

Wir haben keinen OP.
Der Raum ist voll.

Die Klimaanlage funktioniert nicht, der Generator ist ausgefallen.

Außer mir sind nur Frauen im Raum, der einzige Mann, der außer mir öfter hier ist, ist der Pfarrer.

Zur Beschneidung.

Ich lege meine Sachen ab.
Ich begrüße meine Kolleginnen und gehe in den "Kreißsaal".

Ein Raum von 5x5m, in dem zwei gyn. Untersuchungsstühle stehen, auf denen geboren wird.

Es gibt ein striktes System: Vorrang hat der am weitesten geöffnete Muttermund.
Du liegst seit zwei Stunden mit 10cm auf dem Stuhl, neben dir gebärt jemand anders.

Es kommt eine Frau, die Fruchtwasserabgang hatte, Muttermund verstrichen.

Du musst vom Stuhl runter, in den Vorraum. Es gibt nur zwei Stühle.
Im Kreißsaal liegen zwei junge Frauen, beide gebären in fast völliger Stille.

Die Frauen schnipsen mit den Fingern den Schmerz fort.

Wer schreit, wird schonmal angefahren: Ein Kind von Gott zu bekommen ist die schönste Sache der Welt. Schreien ist unwürdig.
Die erste Geburt ist komplikationslos. 23 Jahre, fünftes Kind.

Ich nehme das Neugeborene entgegen, säubere es, pucke es, und gebe es der Mutter im Vorraum wieder.

Die zweite Geburt ist grauenhaft.

Das etwa 15j Mädchen kommt von weiter weg. Sie ist Muslima und spricht Gha.
Während ich im Vorraum war, ist ihre Fruchtblase geplatzt. Das ist ihre erste Geburt.

Der Muttermund ist zwar verstrichen, das Kind aber in Stirnlage.

Das einzige Medikament im MW ist Oxitocin i.m.

Das einzige diagnostische Gerät ein Hörrohr.
Es dauert viel zu lange. Der Kopf entwickelt sich unendlich langsam.

Die Mutter ist von der weiten Reise erschöpft, presst das sich nicht drehende Kind durch einen zu engen Geburtskanal.

Die Hebamme setzt einen Dammschnitt mit einer Verbandsschere.
Als der Kopf endlich entwickelt ist, wird klar, warum es so schwer war.

Die Nabelschnur des Kindes ist um die Handgelenke am Hals gewickelt.

Ich weiß nicht, wie lange die Geburt noch dauert. Die Mutter blutet relativ stark aus dem Dammschnitt, sie sieht müde aus.
Trotzdem schreit sie nicht.

Aber auch nicht ihr Kind. Wie immer wird sofort abgenabelt, das Kind wird mit übergeben, die Hebamme wendet sich der Geburtsverletzung zu.

Ich nehme das Kind, bringe es zum Tisch an der linken Raumwand.
Atmung nicht vorhanden.

Ich reibe den Körper mit einem groben Handtuch ab.

Keine Atmung.

Ich nehme das Kind hoch, klopfe vorsichtig auf den Rücken und reibe mit der Hand.

Das Kind schluchzt einmal.

Ich lege das Kind wieder hin.

Der Leistenpuls ist kaum tastbar.
Ich nehme mir das Hörrohr und horche an der Herzspitze.

30.

Das Kind atmet nicht suffizient.

Ich nehme mir einen Ambubeutel und beginne mit der Beatmung.

Mir fällt nicht auf, dass ich alleine bin

3:2 das weiß ich noch. Mit beiden Daumen. Wie doll drückt man bei Neugeborenen?
Der Widerstand beim beatmen ist hoch.

Ich schaue zum gyn. Stuhl. Mykonium im FW.

Ich sehe mich verzweifelt um. Absauge? Fehlanzeige.

Mir fällt ein, dass es einen Neugeborenensauger gibt. Runder Ball mit Spitze.

Ich versuche abzusaugen. Zu kurz, eher für Nase gedacht.
Ich schaue mich um. An einem Infusionsständer hängt eine benutzte Infusionsleitung.

Ich nehme die Dammschnittschere und schneide 15cm ab.

Die Leitung passt in das kleine Loch vom Ball.

Ich führe die Leitung ein, und schaffe es irgendwann den Schlauch mit dem Zeigefinger
in die Luftröhre zu buxieren.

Ich ziehe unter Sog heraus, und plötzlich atmet das Kind.

Es schreit nicht, aber es atmet. Ich assistiere weitere 10 Minuten, bis die Herzfrequenz über 100 und die Recapzeit unter 3s ist.

Geschafft.

Ich bin stolz.
Ich wasche und pucke das Kind, erst dann sehe ich mich um.

Der Raum ist leer.

Ich bringe das Kind zur Mutter in den Vorraum, die so erschöpft ist, dass die Hebamme das Kind in die Brust legt, während die Mutter schläft.

Ich schaue die Hebamme freudestrahlend an.
"Warum hast du das gemacht?" fragt sie mich.

Ich verstehe nicht.

"Warum hast du das Kind wiedergeholt?"

"Das Kind war doch nicht tot, ich habe doch nur geholfen." - ich verstehe nicht.

"Nein. Das Kind ist tot. Es hat zu lange keinen Sauerstoff bekommen." - ich verstehe nicht
"Aber wir wissen ja gar nicht, wie lange der Sauerstoff schlecht war, wir können das ja gar nicht messen."

"Gott hat entschieden, dass dieses Kind nicht leben wird.
Du hast eine medizinische Ausbildung. Du hättest entscheiden müssen. Was passiert denn jetzt?"
"Hättest du dem Kind nicht geholfen, hätten die Eltern ihr Schicksal angenommen. Du hättest die Last der Entscheidung getragen. Jetzt hast du die Last, ihr eigenes Kind auszusetzen, den Eltern aufgebürdet. Was sollen die mit einem behinderten Kind? Wie sollen die das ernähren?"
Und da verstehe ich.

Ich erinnere mich an die vielen Kleinkinder, die ich tagtäglich auf der Straße sehe. Sie verkaufen Wasser oder Essen an vorbeifahrende Autos.

Selbst gesunde Kinder werden hier manchmal in Waisenheime gegeben, wenn die Familie sie nicht ernähren kann.
Ich kenne nur ein Kind mit Behinderung. Seine Eltern sind reich, sie können sich eine Privatschule leisten.

Diese Eltern sind nicht reich. Sie leben nicht einmal in der Stadt, sondern in irgendeinem Dorf nördlich von Accra. Irgendwo im Nirgendwo.
Und ich verstehe.

In einem Land, in dem totgeborene Kinder in Fed-Ex Kartons abgeholt werden, sind meine ethischen Vorstellungen nichts wert. Sie sind Auswüche derselben Hybris, die Europäer glauben macht, sie kämen hierher um zu helfen.

Ich reanimierte kein weiteres Kind.
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