Was für ein Bild: "Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches" von Anton von Werner (1877).
Das Bild bietet eine Lesart des Kaiserreichs, die schon in ihrer Zeit fragwürdig war, aber später weithin übernommen wurde.
(Hier die Fassung von 1885).
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Vermeintlich zeigt das Bild den Gründungsakt des Kaiserreichs: Mit Fürsten und Militärs, im Spiegelsaal von Versailles, im Herzen des Feindes, wird am 18. Jan 1871 das Hoch auf „Seine Majestät den Kaiser“ ausgerufen.
(Hier Foto der Fassung von 1877, Original: Kriegsverlust)
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Männerjubel! Waffenklirren! Fürstenpracht! Tatsächlich tat Bismarck viel, um den zögerlichen dt. Fürsten plausibel zu machen, dass das Deutsche Kaiserreich ein Fürstenbund sei. Der Bundesrat sollte das garantieren, der (ziemlich demokratisch gewählte) Reichstag eingehegt sein.
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Doch der Kaiser war schon Kaiser und das Kaiserreich schon gegründet. Und zwar nicht per Degenschlag und Fürstenjubel, sondern per Verfassung von 1870. Und wie in der Nachfolgeverfassung von 1871 gab es das moderne allgemeine & gleiche Männerwahlrecht:
4/ https://de.wikisource.org/wiki/Verfassung_des_Deutschen_Bundes_(1870)
Im Verfassungsalltag des Kaiserreichs erwies sich das Parlament zunehmend als mächtig, der (föderale und fürstliche) Bundesrat als eher unbedeutend. Umso wichtiger die Konter-Ikonographie des Fürstenjubels.
(Bild: "Die Sitzung des dt. Reichstags", Gartenlaube, 1874)
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3 Informationen, die den Propagandacharakter des Anton von Werner-Bildes verdeutlichen: Die Kaiserproklamation wurde von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Sie war ein eher arbiträres Ereignis. Die Zeitungen wissen von nichts.
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2) Der ganze Akt, dem ein Gottesdienst voranging, war überaus langweilig, "ganz ohne Pose und Zeremoniell". Der Spiegelsaal ist länglich, unübersichtlich. Als dann der Großherzog von Baden wohl spontan das Hoch auf den Kaiser ausrief, war gar kein Platz zum Waffenschwingen.
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3) Der Spiegelsaal war wohl keine gezielte Demütigung des Feindes (so bekloppt war Bismarck eher nicht), vielmehr lagerte das dt. Hauptquartier eben hier. Eigentlich war der Saal ungeeignet. Für den Gottesdienst hatte man aber auch nicht die katholische Kapelle nutzen wollen.
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Literatur zu dem Gemälde der Kaiserreich-Proklamierung u. a. Gaehtgens., Th W.: Anton von Werner. Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches. Frankfurt 1990 & Adolf Rosenberg, Anton von Werner. Bielefeld und Leipzig 1900 (2. Aufl.)
https://archive.org/details/avonwerner00unkngoog/page/n39/mode/2up
Fazit: Das beeindruckende, vielreproduzierte Gemälde sollte nicht die Vielfalt des Kaiserreichs verdecken, dass es neben reaktionären Tendenzen demokratische Aufbrüche gab & dass es die Zeit war, in der Frauen laut die Bühne betraten.
(München 1912) https://twitter.com/janboehm/status/1256600622482296833?s=20
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